Le Havre – ein Ort für spätere Topspieler
Lassana Diarra. Paul Pogba. Dimitri Payet. Riyad Mahrez. Benjamin Mendy. Steve Mandanda. Ferlandy Mendy. Was haben all diese klangvollen Namen gemeinsam? Richtig, alle Spieler absolvierten bei großen Vereinen mehrere dutzend Champions League-Partien und gewannen teilweise große Titel. Doch diese Spieler haben noch etwas gemeinsam. Denn all diese Spieler verbrachten zumindest einen Teil ihrer Jugend in der Hafenstadt Le Havre im Nordwesten Frankreichs. Genauer gesagt beim aktuellen Tabellenführer der Ligue 2 – dem AC Le Havre. Es hat fast schon Tradition, dass der Verein aus der Normandie auf die Entwicklung junger Spieler setzt, um diese wenig später für teuer Geld zu verkaufen.
Geschäftsmodell „Talente“
Wie gut die Arbeit mit jungen Spielern in der Vergangenheit funktionierte, zeigt alleine schon die Auflistung dieser Namen. Doch genauso beweisen die Transfersalden der vergangenen 20 Jahre die Cleverness, mit der man auf dem Transfermarkt agiert. Laut transfermarkt.de erwirtschaftete man sich in dieser Periode ein Transferplus von fast 70 Mio. €. Eine erstaunliche Zahl für einen Verein, der in diesem Zeitraum lediglich ein Jahr in der Ligue 1 spielte.
Personeller Umbruch im Sommer
Da man in den vergangenen Jahren allerdings kaum ein Wörtchen um den Aufstieg in die Ligue 1 mitreden durfte, sah sich Eigentümer Vincent Volpe vor dieser Saison zu einem Umbruch gezwungen. Trainer Paul Le Guen, der für die Entwicklung der eigenen Talente stand, musste nach drei Jahren Amtszeit seinen Platz räumen. Für ihn kam der 40-jährige Slowene Luka Elsner. Neben diversen anderen neu besetzten Positionen heuerte der frühere PSG-Profi Mathieu Bodmer als Sportdirektor des Zweitligisten an. Interessanterweise folgte er damit seinem 18-jährigen Sohn Matheo, der schon seine ersten Profiminuten in Le Havre sammeln durfte.
Ein weiterer Neuzugang war der Sportjournalist Julien Momont. Bekannt durch seine Taktikanalysen auf YouTube und als Autor von vier Spielanalyse-Büchern ist Momont nun als Spielanalyst beim AC Le Havre tätig.
Anpassung der eigenen Philosophie
Mit Bodmer kam nicht unbedingt eine Änderung, sondern vielmehr eine Anpassung der eigenen Philosophie. Auf der einen Seiten vertraute man weiterhin auf die Jugend und stellt die zweitjüngste Mannschaft der Ligue 2. Auf der anderen Seite setzte man in der Sommertransferphase auf Erfahrung und verstärkte den Kader mit aufstiegserprobten Spielern. Ein Sommer, den man durchaus als Kampfansage des AC Le Havre verstehen durfte und der ein halbes Jahr später Stand heute ein voller Erfolg war. Denn nach 17 Spieltagen steht die Mannschaft von Trainer Elsner mit fünf Punkten Vorsprung vor Absteiger Bordeaux an der Tabellenspitze der Ligue 2. Der Traum von einer Rückkehr in die Ligue 1 nach 14 Jahren ist so lebhaft wie schon lange nicht mehr. Neben den vielen guten Entscheidungen auf der Managementebene scheint auch auf dem Fußballplatz vieles beim AC Le Havre zu stimmen, wie ein analytischer Blick auf die bisherige Saison zeigt.
Erfolg dank Stabilität
Möchte man die aktuelle Saison des AC Le Havre auf möglichst ein Wort komprimieren, so liegt man mit „Stabilität“ sicherlich nicht falsch. Lediglich eine Niederlage gab es am zweiten Spieltag. Zudem kassierte man nur 6 Gegentore in 17 Ligaspielen. Da liegt die Vermutung nicht fern, dass ein großer Anteil am aktuellen Erfolg im Defensivplan der Mannschaft von Trainer Luka Elsner liegt. Zwar hätte man laut Expected Goals rund vier Tore mehr kassieren können, jedoch wäre man auch mit 10 Gegentoren noch die beste Abwehr der Ligue 2.
Stabilität durch Konstanz
Ein nicht unwesentlicher Faktor für Stabilität ist Konstanz. Da Trainer Eslner seine Mannschaft durchgehend in einer 4-3-3-Formation auf den Rasen schickt, können sich die Spieler an einem fest einstudierten System orientieren. Insbesondere im Spiel gegen den Ball ist ein abgestimmtes System wichtig, um den Gegner wenig Räume zu bieten. Dabei gelingt es Le Havre, das Zentrum dicht zu halten, indem man sich bei Gegnerballbesitz in einem kompakten 4-1-4-1 formiert. Zwei disziplinierte Viererketten und ein Sechser zwischen den Linien machen es für den Gegner sehr schwer, Lücken zu finden.
Balancespieler alla Amrabat
Besonders wichtig für die Balance im zentraldefensiven Mittelfeld ist Kapitän Victor Lekhal. Der 28-jährige Algerier fängt nicht nur die meisten Bälle des Gegners ab und stopft dadurch die Löcher zwischen Abwehr und Mittelfeld. Darüber hinaus nimmt er auch im Übergangsspiel eine wichtige Rolle ein und spielt die meisten Pässe ins Angriffsdrittel. In Verbindung mit seinen präzisen langen Bällen kann man in der Spielweise durchaus eine Ähnlichkeit mit Marokkos WM-Star Sofyan Amrabat erkennen.
Hohe Intensität gegen den Ball
Bevor der Verdacht aufkommt, der AC Le Havre sei ein Team, das tief und passiv verteidige und auf Konter warte, gilt es ein Blick auf die Performance-Daten zu werfen. Zum einen möchte man möglichst selbst das Spiel gestalten und verfügt im Mittel eine Ballbesitzquote von fast 56%. Zum anderen setzt man gegen den Ball die höchste Intensität der Liga an den Tag (challenge intensity) und stört so früh wie kein Zweiter (PPDA). Während ein Ligue 2-Team durchschnittlich 33 erfolgreiche Pässe pro 90 Minuten ins Angriffsdrittel spielt, lässt Le Havre lediglich 28 dieser Pässe zu. Dadurch nimmt man den Gegner von vorneherein die Möglichkeit, in die Gefahrenzonen und 1-gegen-1-Dribblings zu kommen. Sollte es dennoch dazu kommen, kann man sich auf ein starkes Außenverteidiger-Duo verlassen. Kein Spieler des Tabellenführers kann mehr erfolgreiche Defensivaktionen verzeichnen als Oualid El Hajjam und Christopher Operi.
Wenig Chancen – schlechte Chancen
In der Folge gewährt man dem Gegner kaum Ballkontakte im 16er und lässt die mit Abstand wenigsten Schüsse der Liga zu. Sollte der gegnerische Angreifer zum Abschluss kommen, geschieht das meist aus aussichtsloser Position. Aktuell beträgt die durchschnittliche Torwahrscheinlichkeit eines Schusses in der Ligue 2 rund 12%. Dass dieser Wert gegen Le Havre nur bei 9% liegt, belegt die starke Abwehrarbeit des Tabellenführers.
Gute Konterabsicherung
Um stabil in der Defensive zu stehen, bedarf es nicht nur guter Arbeit gegen den Ball, sondern auch der richtigen Positionierung mit Ball. Dank geordneter Strukturen schafft man es bei Ballverlust die meisten gegnerischen Konter im Keime zu ersticken. Dies liegt unter anderem auch einem guten Gegenpressing. Nur ein Team schafft es in der Ligue 2 häufiger im Teamverbund zu pressen als Le Havre. Dementsprechend schwierig ist es für den Gegner, sich mit schnellen Kontern vors Tor der Nordfranzosen zu spielen.
Zu wenig Risiko in der Offensive?
Die Absicherung des eigenen Ballbesitzes geht allerdings auch auf Kosten der offensiven Gefahr – insbesondere durchs Zentrum. Nur zwei Teams konnten weniger eigene Angriffs durch die Spielfeldmitte initiieren als Le Havre. In der Konsequenz gehört man bei einigen Offensiv-Parametern nicht zur Spitzgruppe der Liga. Als prominentestes Beispiel ist die Anzahl der abgegebenen Schüsse zu nennen, die mit 10 pro Spiel im Ligamittel liegen. Dass dies nicht zwingend ein Erfolgsgarant ist, zeigt der AS St. Etienne, der mit den drittmeisten Schüssen der Liga auf dem letzten Tabellenrang steht. Trotz mäßiger Offensivwerte steht Le Havre mit 25 erzielten Tore nur ein Tor schlechter als die beste Offensive des FC Sochaux.
Bester Scorer mit fünf Toren und zwei Vorlagen ist der 23-jährige Nabil Aliouli. Meist von der linken Seite in die Mitte ziehend sorgt der technisch versierte Kreativspieler mit seiner Raffinesse und Abschlussstärke für Gefahr im gegnerischen Strafraum.
Hohe Standardgefahr
Größtes Faustpfand im Angriffsspiel von Le Havre ist die große Gefahr bei Standards. Kein Team verzeichnet mehr Abschlüsse nach ruhenden Bällen. Infolgedessen kommt das gute Kopfballspiel des AC Le Havre zur Geltung. Jeder fünfte Abschluss erfolgt per Kopf – jedes fünfte Tor ist ein Kopfballtor. In Verbindung mit den fünf erzielten Fernschusstoren kann man somit das mäßige Positionsangriffsspiel gut kaschieren.
AC Le Havre – ein interessanter Verein auf vielen Ebenen
Zusammenfassend kann man behaupten, dass es sich beim AC Le Havre um einen interessanten Verein auf vielen Ebenen handelt: Ein hochprofessionelles Führungs-Trio um Bodmer, Elser und Momont, das nur so von Fußballexpertise – und Begeisterung strotzt.
Ich schaue mir in etwa 50 komplette Spiele pro Woche an.
-Mathieu Bodmer, der auch nicht den koreanischen, lybischen oder panamaischen Fußball auslässt und deshalb nur 5 Stunden schläft via „L’Equipe“
Eine schillernde Vergangenheit, was die Entwicklung von späteren Topspielern angeht. Und aktueller Tabellenführer der Ligue 2 mit nur 6 Gegentoren. Dass im Offensivspiel nicht alles gelingt, kann dank der starken Verteidigung verkraftet werden. Oftmals reicht dann, wie in drei der letzten vier Partien, nur ein Tor, um als Sieger vom Platz gehen zu können.
Topspiele im Januar als Zünglein an der Aufstiegswaage?
Der Weg zum Aufstieg ist angesichts der Länge der Saison noch ein weiter. Ob man tatsächlich bis zum Ende der Serie von der Ligue 1 träumen darf, könnte schon in diesem Monat mitentschieden werden. Denn noch im Januar kommt es zu den Topspielen mit Girondins Bordeaux (2.) und dem FC Sochaux (3.). An Selbstvertrauen wird es den Spielern des AC Le Havre in diesen Duellen nicht mangeln. Nur ein einziges Gegentor seit Anfang September (10 Ligaspiele) spricht eine deutliche Sprache.
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Quellen:
wyscout.com
instat.com
transfermarkt.de
LG96, Stade Océane nuit, CC BY-SA 3.0
Антон Зайцев, Paul Pogba in 2018, CC BY-SA 3.0
Addesolen, Lassana Diarra, Champions League 2011 against Dinamo Zagreb at Santiago Bernabeu, CC0 1.0