WM-Titel mit Ansage?
Sind wir denn alle verrückt?
Diese Aussage tätigte Diego Maradonna nachdem Lionel Scaloni das Amt des Trainers im Herbst 2018 übernahm. Anfangs als Interimstrainer – doch Scaloni überzeugte die Verantwortlichen und wurde zur Dauerlösung. Nicht erst seit dem WM-Triumph in Katar lässt sich von einer gelungenen Amtszeit sprechen. Zwischenzeitlich blieb die Albiceleste unter Scaloni 36 Spiele ungeschlagen und gewann 2021 die Copa-América. Der anfangs umstrittene Trainer schaffte es, ein Team zu formen und ist mit einem Schnitt von 2,32 Punkten pro Spiel der erfolgreichste Trainer (mit mindestens 10 Spielen) Argentiniens aller Zeiten.
Daten und Fakten – Allgemeines
110 Schüsse gaben die Gauchos bei der WM ab. 15 Tore sprangen dabei heraus – keinem Teilnehmer gelangen jeweils mehr. Die Torverteilung steht sinnbildlich für die Variabilität von Scalonis Mannen. Entscheidend war auch die hohe Chancenqualität des Teams. 15,6% Torwahrscheinlichkeit betrug die Chance pro Abschluss. Ebenso wie die 46% Schussgenauigkeit ein absoluter Topwert! Der Kader sorgte mit seinem Altersschnitt von 27,8 Jahren für eine gute Mischung aus jungen Talenten, Arbeitern im besten Fußballaltern und zaubernden sowie routinierten Altstars.
Das starke Dribbling in der Offensive – vor allem von Ángel di María und Lionel Messi forciert – war von großer Bedeutung. 4 Elfmeter im Turnier sowie durchschnittlich 13 Freistöße nach Foul erhielt man pro Spiel. Da man fast die Hälfte der gegnerischen Schüsse blocken konnte, lässt sich der unermüdliche Einsatz als Erfolgsgarant nicht wegdiskutieren. Ebenso wie der Wert von 6 Abwehraktionen pro Minute gegnerischer Ballbesitz (challenge intensity), der die Aktivität im Spiel gegen den Ball untermauert.
Lionel Scaloni: Analytischer Taktiker
Scaloni schaffte es, der Albiceleste für jedes Spiel einen an den Gegner angepassten Matchplan mitzugeben. Ob 4-4-2, 4-3-3 oder 5-3-2, für den Gegner war es schwierig, sich auf das Spiel Argentiniens einzustellen. Nach der Auftaktniederlage gegen Saudi-Arabien veränderte er die Aufstellung und brachte die späteren Leistungsträger Enzo Fernandez und Julian Alvarez. Dennoch verlief die Gruppenphase eher holprig, erst im letzten Spiel gegen Polen konnte man überzeugen. In der KO-Phase zahlte sich Scalonis taktische Flexibilität aus. Gegen die Niederlande spiegelte er die 3er-Kette der Niederlande, im Halbfinale gegen Kroatien dominierte man durch das 4-4-2 mit 4 zentralen Mittelfeldspielern das kroatische Mittelfeld und somit deren Prunkstück. Das Finale gegen Frankreich wurde bereits ausführlich analysier. Mit der Rückkehr zum 4-3-3 und der Startelfnominierung di Marías auf dem linken Flügel nutzte Scalonis Team perfekt die Schwächen in Frankreichs Defensivverbund.
Luft nach oben zeigte der jüngste Trainer des Turniers im Ingame-Coaching. Sowohl gegen die Niederlande als auch im Finale schafft er es nicht, Einfluss auf die zu kippen drohende Partie zu nehmen.
Scalonis erkennbare Prinzipien: Spielaufbau
Trotz der erwähnten Gegneranpassung waren im argentinischen Spiel klare Grundprinzipien erkennbar. Die Struktur im Spielaufbau formierte sich in der Regel im 2-1 mit 2 Innenverteidigern und einem defensiven Mittelfeldspieler (in der Regel Fernandez) davor. Auch das zentrale Mittelfeld stand nicht viel höher. Das Ziel der engen Abstände war möglichst viele Optionen im Kurzpassspiel zu erlangen. Der zweite und noch wichtigere Punkt war die Konterabsicherung. Kein Team konnte gegnerische Umschaltmomente erfolgreicher verteidigen als die Albiceleste.
Die engen Abstände wurden auch einbehalten, wenn es in Richtung gegnerisches Tor ging. Viele Spieler besetzten die Box und den Rückraum. Das Gegenpressing durch das konsequent nachschiebende Zentrum war zwar mit viel Risiko verbunden, aber dank eines sehr guten Timings extrem erfolgreich.
Offensive
Wenig überraschend suchte man im Spiel nach vorne viel den halbrechten Raum und damit zwangsläufig Lionel Messi. Die Gauchos spielten so wenig wie kein anderer WM-Teilnehmer über die linke Seite. Die Breite wurde in der Offensive häufig von den Außenverteidigern besetzt, die nicht selten den Weg in die Tiefe suchten. Dafür schoben die nominellen Flügelspieler vermehrt in das Zentrum, um dieses zu überladen. Aufgrund vieler Bewegungen war Scalonis Team vor allem zwischen den gegnerischen Ketten immer wieder anspielbar. Als Kontermannschaft fiel man nur selten auf – der Fokus lag ansonsten auf der sicheren Ballzirkulation nach Balleroberung. Wenn allerdings ausreichend Platz vorhanden war, kam man mittels schnellem Kurzpassspiel erfolgreich hinter die gegnerische Abwehr (siehe 2:0 WM-Finale). 32% der eigenen Umschaltsituationen mündeten in einem Abschluss – Turnierbestwert!
Mannorientierungen und das Messi-„Problem“
Messi und Problem in einem Satz klingt verrückt, im Gesamtkontext betrachtet ist es das wohl auch. Gegen den Ball gilt es aber, die Schwächen des Superstars zu kaschieren. Messi geht nur wenige Wege zurück in die Defensive, vor allem im hohen Tempo. Mit ihm ist es schwierig, ein konsequentes und intensives Angriffspressing zu spielen. Folglich zog Scaloni die erste Pressinglinie etwas zurück und ließ die Gauchos aus einem relativ mannorientierten Mittelfeldpressing heraus agieren. Der PPDA (gegnerische Pässe pro eigene Abwehaktion) Wert von 10,34 bestätigt dies.
Die Laufstärke der Akteure rund um Messi kompensierte dessen Ruhepausen. Rodrigo de Paul beschreibt das Mittelfeld Argentiniens gut. Gegen Kroatien kümmerte sich de Paul zeitgleich um Mittelfeldstratege Mateo Kovačić und den offensivstarken Linksverteidiger Borna Sosa. Dank der guten Organisation im Verschieben ermöglichte kein anderes Team seinem Gegenüber weniger Torchancen pro Spiel als die Albiceleste.
Schlüsselspieler
Sicherlich hätten es viele Spieler verdient, ausführlicher analysiert zu werden. Tatsächlich war es aber die starke Achse und Geschlossenheit im Team, die den Erfolg ermöglichten. Zum Beispiel Torwart und Elfmeterkiller Emiliano Martinez. Auch die Innenverteidigung aus Otamendi und Romero, denen man die Lust auf Zweikämpfe förmlich ansah. Der als „Best Young Player“ ausgezeichnete Enzo Fernandez, war nicht nur als laufstarker Akteur vor der Abwehr eminent wichtig, sondern auch als Taktgeber. Nicht von ungefähr verbesserte sich Argentinien mit seiner Hereinnahme im 2. Spiel gegen Mexico extrem.
Das zentrale Mittelfeld in persona Mac Allister und de Paul sicherte die Offensive um Messi ab. Vor allem McAllister, der in diesem Jahr auf der „6“ in Brighton neue Qualitäten erlernte, war unter Scaloni auf der „8“ entscheidend und bespielte immer wieder gut den linken Halbraum als Box-to-Box Spieler. Als harter Arbeiter und Sprinter fiel auch Man City Stürmer Julian Alvarez auf. Der Stürmer bot immer wieder Tiefenläufe und harmonierte aufgrund seines Stürmerprofils perfekt mit Lionel Messi.
Lionel Messi
Lionel Messi darf natürlich nicht unerwähnt bleiben. Der beste Spieler der WM war an fast allen gefährlichen Situationen beteiligt. Scaloni schaffte es, verschiedene Abläufe zu implementieren, um Messi an den Ball kommen zu lassen. Der Künstler agierte als Freigeist auf der 10 und lies sich mitunter sogar tief fallen, um den Ball schon in der Nähe der Innenverteidiger zu empfangen.
Defensiv durfte der Superstar sich rausnehmen, agierte aber in den entscheidenden Spielen dennoch engagierter als gewohnt. Der Superstar spielte jede Minute des Turniers. Zudem verantwortlich für Ecken, Elfmeter und Freistöße stand der 35-Jährige stets im Zentrum der Albiceleste.
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Quellen:
transfermarkt.de
wyscout.com
instat.com
whoscored.com
www.fifatrainingcentre.com/en/
Кирилл Венедиктов, Messi vs Nigeria 2018, CC BY-SA 3.0
https://ccnull.de/foto/wm-pokal-freisteller/1001682 by Tim Reckmann