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Ist Julian Nagelsmann der richtige Trainer für den FC Bayern?

Ein Rückblick auf das erste Jahr von Julian Nagelsmann in München
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Frühes Aus im DFB-Pokal in Gladbach. Viertelfinal-Aus in der Champions League gegen Villarreal. In der Liga steht man nach dem Sieg in Bielefeld kurz vor dem Gewinn der zehnten Meisterschaft in Serie. Doch ist das genug für den FC Bayern? Ist der junge Nagelsmann wirklich der richtige Mann für das Münchner Starensemble? Ein Rückblick auf das erste Jahr von Julian Nagelsmann in München. 

Nagelsmanns Hybridformation

In einer Hybridformation aus 4-2-3-1 und 3-4-2-1 spielt vor allem “Joker” Alphonso Davies eine wichtige Rolle auf der linken Schiene im System Nagelsmann. Während man gegen den Ball in einer klassischen Viererkette verteidigte, setzte man im Ballbesitz auf einen Dreieraufbau. Linksverteidiger Davies rückte hierbei ins Mittelfeld auf, um dessen hohes Tempo und Stärke im Eins-gegen-Eins an der Linie auszunutzen, während sich sein Pendant auf der rechten Seite Pavard in eine Dreierkette einschob. Linksaußen Leroy Sane rückte in den Halbraum und spielte mit Thomas Müller auf der Doppel-10, Kingsley Coman oder Serge Gnabry flankierten die rechte Seite und sollten Robert Lewandowski im Zentrum bedienen. Aufgrund der hohen Präsenz im Zentrum war es  für den Gegner nur schwer möglich sich spielerisch zu befreien. Dementsprechend funktionierte das Gegenpressing der Bayern gut, ließ jedoch Angriffsfläche auf den Außenbahnen. 

Bayern beim 3:0-Erfolg in Barcelona im September
Starke erste Saisonphase

Nach einem holprigen Start mit einem Unentschieden in Gladbach und einem 3:2 Heimsieg gegen den 1. FC Köln spielten sich die “Nagelsmänner” immer mehr in einen Rausch. Von den ersten 14 Spielen unter dem neuen Trainer gewannen die Bayern 12 – mit einem eindrucksvollen Torverhältnis von 61:10. Gegen namhafte Gegner wie Barcelona, Leipzig, Leverkusen und Lissabon siegten die Bayern eindeutig. Selbst bei der ersten Saisonniederlage zu Hause gegen Frankfurt (1:2) wurde stark nach vorne gespielt. Dayot Upamecano ließ dabei aber bereits erste Zweifel an seiner „Bayerntauglichkeit“ aufkommen.
Insbesondere in der Offensive überragten die Bayern in den ersten Wochen der Saison, wie man auch am xG-Wert (expected Goals) festmachen kann: im Durchschnitt erspielte man sich in dieser ersten Phase der Saison einen xG-Wert von 3,05, während man nur 0,9 xG zuließ.
 

Der xG-Wert (xG steht für „Expected Goals“, zu Deutsch: „zu erwartende Tore“) liegt immer zwischen 0 und 1. Mit ihm kann bei jeder Torchance klar bestimmt werden, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass der Ball von diesem Punkt aus im Tor landet. „xG 0,25“ bedeutet also: 25 von 100 Schüssen aus dieser Position führen zu einem Treffer.
via https://www.bundesliga.com/de/bundesliga/news/expected-goals-xgoals-fussball-analyse-statistik-3760

Gladbach-Blackout und alte Probleme 

Den ersten herben Rückschlag erlitten die Nagelsmann-Bayern in der 2. Runde des DFB-Pokal: beim 0:5 (!) in Gladbach erlebten die Bayern eine historische Pleite gegen eiskalte Gladbacher. Diese Niederlage offenbarte alte Probleme in der Defensive um den wiederholt unsicheren Neuzugang Dayot Upamecano.

Zwar reagierten die Bayern stark mit hohen Siegen gegen Union und Benfica (jeweils 5:2), jedoch blieb man in sechs aufeinanderfolgenden Spielen nicht zu Null und musste in diesem Zeitraum 13 Gegentore hinnehmen. Die starke Offensive konnte die punktuellen  Defensivschwächen kaschieren, wie unter anderem der wilde 3:2-Erfolg in Dortmund zeigte. Trotz des Corona-Ausfalls von Mittelfeldmotor Kimmich gewannen die Bayern nach Gladbach 10 von 11 Spielen und spielten die beste Bundesliga-Hinrunde seit Guardiola-Zeiten – sogar die fünftbeste überhaupt. Auch in der Champions League marschierte man souverän durch die Gruppenphase und schaffte mit sechs Siegen aus sechs Spielen und einem Torverhältnis von 22:3 die beste Vorrunde der Geschichte.

Mit insgesamt 22 Siegen aus 26 Spielen und in einem Torverhältnis von 94:27 spielte der FC Bayern unter Julian Nagelsmann – mit Ausnahme des DFB-Pokals – eine überragende Hinrunde und ging mit breiter Brust und Zuversicht für die kommenden Aufgaben in die kurze Winterpause.

Hinrunden-Bilanz der vergangenen 10 Jahre:

Hinrunde Punkte Tore
2012 42 44:7
2013 47 44:9
2014 45 41:4
2015 46 46:8
2016 42 40:10
2017 41 37:11
2018 42 44:18
2019 33 46:22
2020 39 49:25
2021 43 56:16
 Unbeständigkeiten in der Rückrunde 

Von Ausfällen geplagt ging der FC Bayern mit einem sehr kleinen Kader in den Rückrundenauftakt gegen Gladbach. Trotz dieser dünnen Personaldecke verloren die Bayern unnötig mit 1:2 und blieben damit zum dritten Mal in dieser Saison gegen die Gladbacher sieglos.

Im Verlauf der Rückrunde wurden die Bayern immer wieder von Ausfällen begleitet. Allen voran Alphonso Davies vermisste Julian Nagelsmann für seine Hybrid-Formation schmerzlich. Zudem fehlten zeitweise Neuer, Süle, Tolisso und Goretzka. Folglich wechselte Nagelsmann immer wieder zwischen 4-2-3-1, Hybrid und einer klassischen 3er-Kette im 3-4-2-1 – es fehlte die Konstanz. Nicht zuletzt durch die fehlende Präsenz im Mittelfeldzentrum und der damit verbundenen Konteranfälligkeit geling es dem Gegner immer häufiger gefährlich vor Manuel Neuer aufzutauchen.

In der Bundesliga sahen die Bayern-Fans durchwachsene Auftritte gegen Fürth, Union, Hoffenheim und Leverkusen. Trotzdem holte man aus diesen Partien acht Punkte. Negatives Highlight der Rückrunde war die Niederlage in Bochum, wo man bereits nach 45 Minuten vier Gegentore gegen den Aufsteiger einstecken musste – Endstand 2:4. Das Topspiel gegen starke Leipziger wurde wiederum knapp mit 3:2 gewonnen. Der komfortable Vorsprung auf Dortmund wurde somit immer wieder gehalten, ernsthafte Sorgen um die Meisterschaft musste man sich nie machen.

Die fehlende Konstanz wirkte sich auch auf die Champions League-K.O.-Phase aus: beim 1:1 ins Salzburg konnte man eine schwache erste Halbzeit durch eine umso stärkere zweite Halbzeit noch kurz vor Schluss mit dem Ausgleichstreffer korrigieren. Im Rückspiel hingegen war man von Anfang an präsent und fuhr einen 7:1 Kantersieg ein, was Zuversicht für die anstehenden Duelle mit Villarreal gab.

Allerdings enttäuschte man auch hier im Hinspiel auf ganzer Linie. Mit der 1:0-Niederlage in Spanien waren ideenlose Bayern noch sehr gut bedient, fand man doch keinen Weg hinter die disziplinierte Abwehrreihe der Emery-Elf. Während die Spanier im Hinspiel noch das Pressing der Bayern reihenweise überspielen konnten, griff der Matchplan im Rückspiel deutlich besser. In der Allianz Arena spielten die Bayern ausbalancierter und die Konterabsicherung um Benjamin Pavard ließ so gut wie keine Chance der Gäste zu. Lediglich das verdiente 2:0 fehlte zum Weiterkommen. Villarreal hingegen nutzte einmal das halbgare Gegenpressing der Münchner aus und konterte sich drei Minuten vor Schluss zum in der Summe nicht unverdienten Einzug ins Champions League-Halbfinale.

Im Vergleich zur Hinrunde nahm nicht nur die defensive Stabilität ab. Ebenso fehlte die offensive Durchschlagskraft: 

Runde xG xGA
Hinrunde 3,00 2,77
Rückrunde 0,84 1,02

 

Klare Handschrift erkennbar

Insgesamt kann man von einer ordentlichen ersten Saison von Julian Nagelsmann beim FC Bayern reden. In der Liga spielte man die beste Hinrunde seit vielen Jahren, erzielt so viele Tore wie noch nie und konnte sich auch in der Defensive verbessern. Darüber hinaus steht man nach 30 Spieltagen so gut da wie seit vier Jahren nicht mehr. Dass in der Abwehrreihe Führungsqualitäten à la Alaba und Boateng fehlen, machte sich im Laufe der Saison bemerkbar. Trotzdem spielte man die beste Champions League-Gruppenphase der Geschichte und drang bis ins Viertelfinale vor – auch wenn man von einem FC Bayern gegen Villarreal mehr verlangen darf. Aber: Julian Nagelmann verfolgt einen klaren Plan. Was Niko Kovac damals ankündigte (Implementieren eines neuen Systems), zieht Julian Nagelsmann nun durch. Auch wenn es die ein oder andere skeptische Stimme im Verein geben soll. Wenn Nagelsmann weiterhin bei sich bleibt, ihm freie Hand gelassen wird und die gewünschten Verstärkungen auf dem Transfermarkt gelingen, dürfte der FC Bayern noch viele Jahre Spaß am jungen Trainer haben. 

 

Beitragsbild: Zusammenschnitt folgender Quellen
Steffen Prößdorf, 2019-10-23 Fußball, Männer, UEFA Champions League, RB Leipzig – FC Zenit St. Petersburg 1DX 2796 by Stepro, CC BY-SA 4.0
Werner100359, FC Salzburg gegen FC Bayern München (Championsleague Achtelfinale Hinspiel 16. Februar 2022) 65, CC BY-SA 4.0

Co-Founder & Analyst bei ballorientiert

2 Comments

  1. Fritz - Eckart Kempf Reply

    Liest sich eigentlich ganz gut ! Was anzumerken ist, ist das Verhalten während des Spiels zur Taktik : im Spiel wird leider aus 3 – 4 – 2 – 1 ein 3 – 1 – 4 !! Dadurch verlieren Lewi und Thomas den für ihr Spiel benötigten Raum ! Warum hat Lewi immer weniger Ballkontakte und auch Thomas sieht schlecht aus ? Das muß der Trainer sehen. Nicht immer bilden die besten Kicker auch das beste Team . Klar ist viel Offensive spektakulär , Titel werden aber aus einer stabilen Defensive gewonnen. Entwicklungsfähige Talente hat Bayern immer mal wieder , diese müßen dann auch gefördert werden. Das geht mit einer stabilen Achse die ja da ist .

    • Vielen Dank für deinen Kommentar – das freut uns sehr!

      Da hast du Recht, was die Formation angeht. Das war insbesondere in der Rückrunde auffällig.

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